Seit etwa sechs Jahren begleite ich Kundinnen und Kunden in Phasen beruflicher Neuorientierung. Bevor wir darüber sprechen, wie berufliche Neuorientierung gelingt, finde ich es hilfreich einige Begriffe zu klären:
Job oder Beruf?
Unter einem „Job“ verstehe ich eine temporäre, eher kurzfristige Tätigkeit ohne besondere Qualifikationsbedingung. Ein Job wäre also eine Art Gelegenheitsarbeit oder Nebentätigkeit, um Geld zu verdienen. In der Umgangssprache bezeichnet der Job eine Beschäftigung, eine Stelle, eine Aufgabe oder einen Auftrag. Damit einher geht oft eine andere Art der Motivation und Identifikation als bei einem Beruf. Entsprechend häufig sind Wechsel.
„Beruf“ bedeutet Ausbildungswege, Qualifikationen und Arbeitsinhalte, die günstigenfalls etwas mit der Person, die den Beruf wählt, zu tun haben. Das Wort „Beruf“ beinhaltet den „Ruf“, also ein Interesse, eine Begabung, eine Absicht, die einen Menschen in einen Beruf führen. Aus einem Beruf kann eine Berufung im Sinne eines starken Gefühls von Hingabe an das eigene Tun und Wirken erwachsen. Dann identifizieren sich Menschen mit ihrem Beruf.
Wechsel oder Neuorientierung?
Den „Job“ wechselt, wer mit dem Beruf und den damit verbundenen Arbeitsaufgaben und Anforderungen weitgehend einverstanden, jedoch unzufrieden mit den konkreten Bedingungen im Arbeitsumfeld ist. Menschen, die nach einer neuen Stelle Ausschau halten, nennen oft diese Gründe:
- Sie sind unzufrieden mit der Führungsarbeit ihrer Vorgesetzten.
- Sie wünschen sich ein besseres Gehalt.
- Sie vermissen Wertschätzung.
- Sie sehen keine berufliche Entwicklungsperspektiven in der Organisation, in der sie gerade arbeiten.
- Sie fühlen sich unterfordert oder gelangweilt.
Menschen, die sich beruflich neu orientieren wollen, stellen eher Fragen, die um Werte, Sinn und das Ausschöpfen persönlicher Potenziale kreisen.
Themen wie Gesundheit, (Selbst-)Wirksamkeit, Vertrauensverlust, überkommene Menschenbilder oder einschränkende Organisationskulturen können Menschen dazu bringen, ihr bisheriges Arbeiten in Frage zu stellen.
Oder jemand verliert den Arbeitsplatz durch Kündigung und nutzt diesen offenen Raum für einen grundlegenden Neuorientierungsprozess.
Und viel öfter, also womöglich angenommen, geschieht es, dass Menschen über ihren bisherigen Beruf einfach hinauswachsen. Dann suchen sie nach innerer Bestätigung für eine neue berufliche Ausrichtung, die zum Wechsel des beruflichen Feldes führen kann, also zu wirklichen Neuanfängen.
Wann ist es Zeit für berufliche Neuorientierung?
Ich denke, so individuell wie die Lebenswege und die inneren Beweggründe für eine neue berufliche Orientierung sind, so sind es auch die Momente, in denen jemand aufbricht. Das Alter der Person ist diesbezüglich weniger relevant.
Menschen, die sich mit Coachinganfragen zur beruflichen Neuorientierung an mich wenden, sind zwischen Mitte 20 und Ende 50.
Viele kommen aus eigenem Antrieb und mit einer erfrischenden Neugier auf sich selbst, manche schickt das Leben. Einige wollen weg aus dem gegenwärtigen Arbeitsumfeld, andere haben innere Absichten oder beschreiben klare Vorstellungen. Sie wissen, wohin es sie zieht, doch sie wissen noch nicht, wie sie dahin kommen können.
Es gibt aber auch Signale, die das Thema berufliche Neuorientierung sofort weit nach vorn auf die persönliche Agenda befördern sollten: Wer mit der Arbeit hadert, sich überreden muss zur Arbeit zu gehen, wer anhaltende Energielosigkeit oder Stimmungsschwankungen bemerkt, wen Ohnmachtsgefühle oder Panikattacken quälen, sollte aktiv werden und sich Unterstützung organisieren.
Produktive Fragen
Wenn Sie das Gefühl haben, eine berufliche Veränderung stünde an, können diese Fragen Ihre Selbstreflexion leiten und für mehr innere Klarheit sorgen, vor allem dann, wenn Sie sie so aufrichtig wie möglich beantworten:
- Womit genau bin ich unglücklich: Mit der Arbeit oder dem Leben? Wie lange schon?
- Was frustriert mich am meisten? Hat dieser Frust eher mit der Führung, mit den Kollegen oder mit den Aufgaben zu tun?
- Was ist der eigene Anteil an der Situation? Was kann ich beeinflussen oder ändern?
- Was will ich wirklich? In meinem Beruf, in meinem Leben?
- Was gibt mir Energie? Was macht mir Freude?
- Was sind meine Stärken und Begabungen? Welche möchte ich mehr nutzen?
- Wann empfinde ich mein Tun als sinnvoll? Was gibt mir Sinn?
- Welchen Beruf, welche Tätigkeit würde ich mir selbst wählen, wenn ich frei in meiner Wahl wäre?
- Was würde ich dadurch gewinnen? Was müsste ich loslassen? Wofür bin ich bereit?
- Was kostet es mich, nichts zu unternehmen und in der Situation zu bleiben?
Aktiv werden
Wenn Sie zu der Einschätzung kommen, dass der Beruf prinzipiell der richtige für Sie ist, können Feinkorrekturen zu mehr Stimmigkeit führen. Das können andere oder zusätzliche Aufgaben innerhalb der Organisation sein, die zu neuen Herausforderungen und zu mehr Verantwortung führen. Oder genau anders herum: Sie geben Aufgabenbereiche ab, die Ihnen beständig und unverhältnismäßig viel Energie rauben, weil Sie für andere Aufgaben besser geeignet sind.
Weil sich Organisationen zunehmend der Entwicklung neuer und individueller Karrierewege öffnen, können Gespräche innerhalb der Organisation nützlich sein.
Sollten Sie diese Gespräche als wenig produktiv empfinden oder gar nicht erst führen wollen, beginnt die Suche nach Stellenausschreibungen, die Sie ansprechend finden. Hier lohnt es sich genau zu lesen. Was teilt eine Organisation schon in einer Stellenausschreibung über sich selbst mit? Welche Entwicklungsmöglichkeiten werden skizziert? Welche Werte werden ausgedrückt? Wie passen diese Werte zu Ihren persönlichen Werten? Was empfinden Sie als anders in Bezug auf Ihre bisherige Arbeit und/oder die Organisation?
So gelingt berufliche Neuorientierung
Eine grundsätzliche berufliche Neuorientierung möchte tiefer vorbereitet sein. Hier geht es darum zu klären und zu verinnerlichen, wer Sie bisher geworden ist, welche Fähigkeiten und welche persönliche Reife Sie entwickelt haben. Sie erkunden innere Beweggründe, Werte und Sinnvorstellungen, die in einer kommenden Entwicklungsphase Ausdruck finden wollen. Sie entwickeln ein Bild von sich selbst in Ihrem zukünftigen Wirkungsfeld.
Dann kann eine Art „Feldforschung“ nützlich sein. Sie sammeln Informationen über das neue berufliche Feld, um es genauer zu verstehen und das eigene Bild davon zu konkretisieren.
Wenn Sie wissen und beschreiben können, was Sie suchen, ist es produktiv nach außen zu gehen: Gespräche führen, Feedback einholen, weitere Informationen sammeln, Beziehungen aufbauen. Sie können das eigene Netzwerk aktivieren und sichtbar werden im Sinne der neuen beruflichen Ausrichtung.
Ein solcher Prozess braucht eine gewisse Hingabe. Es wird Hindernisse oder Rückschläge geben. Trotzdem beobachte ich immer wieder, wie Menschen an Selbstvertrauen, Energie, Entschlossenheit und Strahlkraft gewinnen, während sie ihre selbstgewählten Ziele verfolgen. Sie wissen, wofür sie unterwegs sind, und das macht einen Unterschied.
Bleiben oder aufbrechen?
Ich höre auch Berichte darüber, wie Menschen enorme Energie aufbringen, um in Situationen oder Konstellationen auszuharren, die sie selbst als untragbar empfinden, weil sie schlicht keine andere Option für sich sehen.
Zum Bleiben verführt das Gefühl, dass das Untragbare wenigsten bekannt ist, während der Weg in eine Veränderung ins Unbekannte führt. Ja, so ist es: Etwas Neues ist solange unbekannt, bis man es kennenlernt.
Unabhängig davon, ob Sie zum Bleiben oder Aufbrechen tendieren, haben Sie jederzeit die Möglichkeit, Ihre Situation, Ihre Gedanken und Gefühle dazu im Gespräch mit einer vertrauenswürdigen, neutralen Person zu ordnen. Im Gedankenaustausch und im gemeinsamen Betrachten der Situation treten oft Möglichkeiten hervor, die sonst verborgen bleiben würden.
Wo sich deine Talente mit den Bedürfnissen der Welt kreuzen, dort liegt deine Berufung.
Aristoteles