Zusammenarbeiten


25. Januar 2020

Ina Deicke
Zusammenarbeit in der Natur

Unsere Lebenskonzepte sind im Umbruch. Wir haben lange darüber geredet, wie der Glaubenssatz vom stetigen Wachstum zu unseren endlichen Ressourcen passt, doch anzuerkennen, dass endlich wirklich ENDLICH bedeutet, schien bisher unannehmbar.

Manche Menschen drängen seit Jahren voller Ungeduld auf notwendige Veränderungen, andere können selbst jetzt, angesichts der brennenden Tatsachen, die Dringlichkeit nicht erkennen. Zwischen Menschen mit so unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen des Geschehens baut sich eine beachtliche Spannung auf.

Wie halten wir diese Spannungen aus? Und mehr noch: Wie können wir die Energie dieser Spannungen produktiv nutzen?

Leben, das dem Leben dient

Vor einigen Jahren habe ich mich mit regenerativem Leben und Wirtschaften beschäftigt und einige ermutigende Ansätze gefunden. Im regenerativen Paradigma geht es darum so zu leben, dass das Leben dem Leben dient. Das erscheint mir als Leitprinzip konkret und offen genug, weil es eine persönliche, gesellschaftliche und erdverbundene Dimension enthält. Ich könnte auch sagen: Es geht um Lebendigkeit.

Jede/r kann bei sich und um sich herum nach Lebendigkeit schauen: Wie lebendig fühle ich mich in meinem Leben? Wie lebendig sind meine Partnerschaft, meine sozialen Beziehungen, meine Beziehung zur Natur? Wie steht es um meine Fähigkeit zu fühlen? Wie öffne ich mich Gefühlen? Und wie halte ich die Fülle der Gefühle aus? Wo höre ich andere Geschichten von Lebendigkeit? Welche Art von Gesprächen führe ich überhaupt? …

Zusammenarbeiten

Seit es Leben auf der Erde gibt, geht es ums Zusammenarbeiten. Kooperation ist eine Evolutionsgrundlage, und weil wir Menschen Teil des Ökosystems Erde sind, betrifft uns das unmittelbar.

Seit Darwin den Satz von „Survival of the fittest“ prägte, wurde dieser Satz fulminant fehlinterpretiert. Es geht nicht darum, dass sich die Stärksten durchsetzen. Es geht vielmehr darum, dass diejenigen überleben, die am besten zusammenarbeiten, wenn das Leben zu organisieren ist.

Aus der Evolutionsforschung wissen wir, dass 99,9 Prozent der Arten, die einst die Erde bevölkerten, ausgestorben sind. Evolution ist wie ein Spiel mit der einzigen Regel: Bleib dabei!

Wir wissen auch, dass Wettbewerb als ein Kennzeichen der Unreife einer Art gilt. Junge unreife Arten beanspruchen viel Raum und viele Ressourcen und vermehren sich so schnell sie können.

Erst im Prozess des Verhandelns mit anderen Arten reifen sie und so reift das Ökosystem. Im Urwald gibt es keine Führung einer Art; die Führung liegt im System verteilt bei allen Arten. Alle kennen ihren Anteil und kooperieren im gegenseitigen Einklang. Ich will hier keine romantischen Vorstellungen wecken. Zusammenarbeiten bedeutet jede Menge Arbeit! Doch ohne Kooperation im Sinne des Lebens gibt es kein Leben.

Die beste Lebensversicherung einer Art in einem Ökosystem besteht in den nützlichen Beiträgen zur Lebenserhaltung der anderen Arten.

Zusammenarbeiten von der Natur lernen

Das alles können wir aus der Natur lernen, deren Teil wir sind und deren Gesetzmäßigkeiten für uns gelten. Wenn ich daraus etwas schlussfolgern will, dann das:

Wenn sich unsere Lebens- und Welterklärungskonzepte im Umbruch befinden, dann geht es um die Bewegung weg vom Paradigma des Wettbewerbs hin zum Paradigma des Zusammenarbeitens, und das nicht nur unter uns Menschen, sondern in Form einer ko-evolutionären Partnerschaft mit der ganzen Natur. Es geht um das Entwickeln von natürlichen wie sozialen Fähigkeiten, die uns helfen Vielfalt, Komplexität und Kreativität auszudrücken. Es geht um persönliche, kollektive und partnerschaftliche Entwicklungsprozesse – also um Lebendigkeit.

So betrachtet erscheinen mir die aktuellen Herausforderungen eher psychologischer und kultureller als technischer Natur, denn wir brauchen eine Neudefinition unserer Rolle, die wir Menschen als Teilnehmende am Evolutionsprozess spielen wollen.

Adlerperspektive

Wenn ich von oben, aus der Perspektive eines Adlers, auf unser alltägliches Ringen schaue, kann ich zwei hauptsächliche Bewältigungsstrategien wahrnehmen:

Ich erlebe Menschen, die spüren, dass die bisherige Weise sich die Welt zu erklären nicht mehr taugt. Sie öffnen sich und ihr Denken für neue Erzählungen. Sie hören in tieferer Weise zu. Sie entwickeln Mitgefühl angesichts des Zustands der Erde und sind bereit eigene vertraute Vorstellungen und Bewältigungsstrategien loszulassen. Ich nenne das „sich anheimstellen“ und meine damit sich hingeben an ein Geschehen, das mensch in diesem Moment nicht lenken kann oder will. Wer sich so bewusst zu öffnen vermag und hinspürt, bemerkt zuweilen, wie sich Zukunftsmöglichkeiten zeigen. Dann gilt es den Mut aufzubringen und der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, sie zu verdichten und im Dialog mit dem Leben zu gestalten.

Ich erlebe auch Menschen, die damit nichts anfangen können. Sie scheinen wie festzustecken im Überkommenen und in einem Gefühl von Mangel. Um aushalten zu können, betäuben sie ihre Gefühle und verleugnen die eigenen Wahrnehmungen. Sie neigen dazu mit „mit dem Finger auf andere zu zeigen“ und suchen dort die Schuldigen. Es ist eine psychische Entlastungsstrategie, die nicht lange trägt. Dann ist das Ungemach wieder spürbar und erfordert neue manipulative Handlungen, um irgendwie aushalten zu können.

Und dazwischen lässt sich jede denkbare Nuance beobachten, je nachdem, was die individuellen Kapazitäten gerade erlauben.

Es geht mir nicht darum menschliches Verhalten zu bewerten. Jede/r ringt in eigener Weise.

Ich will darauf hinweisen, dass wir wählen können, für welche bevorzugte Strategie wir uns entscheiden. Und diese Entscheidung ist vielleicht die wichtigste, die wir im Leben treffen können. Im Moment des Entscheidens beginnt ein neuer Abschnitt der eigenen und unserer kollektiven Geschichte. Und jede Entscheidung zählt.