Rebellion der Seele


27. Januar 2021

Ina Deicke

Vor etwa 15 Jahren las ich einen Fachartikel, in dem die Autoren psychische Erkrankungen wie Burnout, Depression und Angstzustände als die neuen „Volkskrankheiten“ bezeichneten, die die allgegenwärtigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ablösen würden. Das überstieg mein damaliges Vorstellungsvermögen. Was genau bedeutet das? Und warum sollten wir das zulassen?

Es ist genau so gekommen. Das belegen die Berichte zur psychosozialen Lage in Deutschland und international. Wir ringen um Deutungen und Herangehensweisen, die helfen sollen diese Entwicklung zu stoppen. Ich denke, wir stehen erst am Anfang.

Jeden Tag passieren so viele unerhörte Dinge, dass es übermenschliche Kräfte bräuchte, um sich damit auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung zu finden. Unsere Alltage und unsere Kultur sind dafür nicht ausgelegt. Unsere menschliche Natur womöglich auch nicht. Also haben wir Strategien entwickelt, um mit dem Zustand der Welt und mit dem eigenen Befinden darin umzugehen.

Bewältigungsstrategien

Die meisten Bewältigungsstrategien laufen unbewusst. Sie müssen weder logisch noch sinnvoll oder konstruktiv sein – nur wirksam, irgendwie. Sie sollen helfen, das Leben zu bewältigen.

Bekannte Strategien sind:

  • sich auseinandersetzen und Handlungsmöglichkeiten finden,
  • sich öffnen und austauschen, um Trost und Ermutigung zu erfahren,
  • Probleme ignorieren, aussitzen, wegschauen.
  • Wenn das nicht mehr reicht: Betäuben, entfühlen, verleugnen, zerstören.

Wie gehen wir damit um, wenn Bewältigungsversuche in eine Abwärtsspirale führen?

Auf der individuellen Ebene haben wir Therapien geschaffen. Therapien können helfen, mehr Bewusstheit über sich selbst zu erreichen.

Und dann?

Solange wir psychische Erkrankungen auf der kollektiven Ebene als „Leistungsanpassungsstörung“ betrachten, drehen wir uns im Kreis und verstärken das Unerhörte.

Was, wenn wir das Geschehen bisher zu eng interpretieren?

Was, wenn es auf einer tieferen Ebene die „Zeichen der Zeit“ sind?

Botschaften der Seele sind Reaktionen auf Übergangsprozesse.

Ein kurzer Exkurs in die Ökopsychologie hilft uns den Blick zu weiten.

Die zentrale Annahme der Ökopsychologie ist, dass wir Menschen Natur sind. Wir sind menschliche Natur mit Körper, Seele, Verstand, Bewusstsein, Reflexions- und Imaginationsvermögen. Wir sind unmittelbar verbunden mit der Erde als Lebensgrundlage. Die Worte homo, human und humus entstammen derselben Wurzel.

Eine weitere Grundannahme ist: Die Natur führt uns in unserer Entwicklung durch die Seele.

Wenn die Seele rebelliert

C.G. Jung beschreibt Seele als unsere wahre Natur, die tiefere Essenz dessen, wer wir sind. Die Seele fordert uns auf unsere Einzigartigkeit zu entwickeln und das Tiefe und Unbewusste in uns zu akzeptieren.

Die Seele äußert sich in bildhafter, symbolischer oder somatisierender „Sprache“. Das geschieht, um Un- oder Vorbewusstes ins Bewusste zu heben. Es bedarf Bewusstheit, um Gefühle auszudrücken, reflektieren, abwägen, entscheiden und (seelen)orientiert handeln zu können.

Dann entfaltet sich eine heilsame Bewegung. Ich denke dabei an die drei Elemente der Salutogenese:

  • Verständnis (Ich muss verstehen können, was in meinem Leben passiert.)
  • Sinn (Das, was geschieht, muss für mich einen Sinn ergeben.)
  • Bewältigbarkeit (Ich muss mich in der Lage fühlen es bewerkstelligen zu können und/oder einen Weg dahin zu sehen).

Wir wissen heute so viel über das feine Verwoben- und Aufeinanderbezogensein von Körper – Psyche – Mindset – Sinnempfinden in Bezug auf Gesundheit und Lebensqualität, doch verstehen wir es auch?

Wenn die Seele will, dass ich wachse, und ich mich darin beobachte, wie ich jeden Tag Dinge tue, die ich als sinnfrei empfinde, wie ich meine Energie und Tatkraft in fremde, vielleicht zweifelhafte oder zerstörerische Ziele stecke, wie ich vor lauter Stress nicht mehr fühlen und denken kann und mich grob entgegen der seelischen Absichten verhalte – wäre es nicht begründet, dass die Seele rebelliert?

Wäre es nicht sogar weise erschöpft, deprimiert oder zutiefst beunruhigt zu sein? Wäre es nicht ein Spiegel auf eine „Kultur“, die erschöpfende Ressourcenentnahme, entwertende Überproduktion, globale Vermüllung und gefühllose Zerstörung von Ökosystemen zu ihren Leitprinzipien zählt?

So, wie der Druck auf die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme steigt, so wächst der Stress auf der seelischen Ebene, weil sich die Zerstörung der Natur als Form der Selbstzerstörung erweist.

Ich weiß, das klingt radikal. Zum Glück denken Sie ja sowieso, was Sie wollen.

Wandel

Wir sprechen davon, dass wir vor einem Paradigmenwechsel stehen. Wir sind zunehmend in der Lage, diesen Wechsel zu beschreiben: Wir sagen, es bedarf eines sozial-ökologischen Umbaus der Gesellschaft. Wir haben ausreichend verlässliche Koordinaten, die mit Klima-, Gerechtigkeits- und Verteilungsthemen zu tun haben. Wir können neue Leitprinzipien benennen: Kooperation, Eingebundensein (Interbeing), Ganzheit, Einzigartigkeit, Vielfalt, Reziprozität, Entwicklung.

Fragen Sie mal in Ihrem Umfeld, wer welche Vorstellungen davon hat, wie dieser Wandel passieren wird und wie wir diesen Prozess bewältigen.

Wir wissen es noch nicht genau.

Das macht Wandel so fordernd. Wir stehen im Feld von Liminalität. Wir merken, das Alte trägt nicht mehr und das Neue lässt sich noch nicht beschreiben. Wir sind irgendwo dazwischen … und jede/r empfindet das anders.

Zu gelingendem Wandel gehört, dass die individuellen und kollektiven Übergänge begleitet werden. Übergangsprozesse bilden die innere, die psychologische Dimension von Wandel ab. Diese ist immer dann relevant, wenn es nicht nur um die Veränderung, sondern auch um (psychosoziale) Entwicklung geht.

Ich bin überzeugt davon, dass sich Zahlen und Intensitäten psychischer Erkrankungen reduzieren, je besser und selbstverständlicher eine Gesellschaft Übergangsprozesse versteht und aktiv begleitet.

Neuanfänge

Kunden, die ich im Coaching begleite, suchen nach individuellen Neuanfängen – im beruflichen und im persönlichen Leben.

Viele haben eine Rebellion der Seele in der einen oder anderen Ausprägung erlebt und zu einem Wendepunkte gemacht. Es geht um Selbstbekenntnis und Selbstannahme.

Wenn wir uns so annehmen können, wie wir sind, weitet sich innerlich ein Raum. Ab hier steht psychische Energie zur Verfügung, die in ein neues Selbstverständnis, in eine neue (berufliche) Identität fließen kann.